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Institut Mathildenhöhe, Foto: Gregor Schuster

Welterbe Mathildenhöhe Darmstadt

Außergewöhnlicher, universeller Wert | Outstanding Universal Value

Kriterium (ii): „Angemeldete Güter sollten […] für einen Zeitraum oder in einem Kulturgebiet der Erde einen bedeutenden Schnittpunkt menschlicher Werte in Bezug auf Entwicklung der Architektur oder Technik, der Großplastik, des Städtebaus oder der Landschaftsgestaltung aufzeigen.“ 

Die „Mathildenhöhe Darmstadt“ ist ein Prototyp der Moderne, ein kompaktes und außergewöhnliches Zeugnis für die Entstehung der modernen Architektur, Stadtplanung und Freiraumgestaltung mit seinen Entwicklungsstufen zum Internationalen Stil des 20. Jahrhunderts. Ihre epochale funktionale und ästhetische Qualität steht für einen spannenden Zeitraum der künstlerischen und sozialen Reformen und verkörpert einen entscheidenden Schnittpunkt in der Entwicklung von Architektur und Design, Stadtplanung, Freiraumgestaltung und moderner Ausstellungskultur. Das Ensemble ist ein ganzheitliches Beispiel der frühen Moderne. Zwischen 1901 und 1914 gab es vier international gewürdigte Bauausstellungen, die eine große Zahl von Besuchern begeisterte. Die Ausstellungen zeigten experimentelle wie funktionale Architektur, innovativ möblierte Räume und eine zweckmäßige Freiraumgestaltung. Die Mitglieder der Darmstädter Künstlerkolonie – inspiriert durch verschiedene Reformbewegungen – arbeiteten auf der Mathildenhöhe in künstlerischer Freiheit. Ihre unterschiedlichen Stile fügen sich harmonisch zu einem beispiellosen Gesamtkunstwerk zusammen. Die „Mathildenhöhe Darmstadt“ war mehr als eine Sammlung von Künstlerhäusern und Ateliers. Sie entwickelte sich aus einer Gemeinschaft und deren halbutopischen Projekten zu einem Brennpunkt prägender Trends der Moderne, der grundlegenden Einfluss auf zahlreiche internationale Bauausstellungen des 20. und 21. Jahrhunderts hatte.

 

Kriterium (iv): „Angemeldete Güter sollten […] ein hervorragendes Beispiel eines Typus von Gebäuden, architektonischen oder technologischen Ensembles oder Landschaften darstellen, die einen oder mehrere bedeutsame Abschnitte der Geschichte der Menschheit versinnbildlichen.“

Die „Mathildenhöhe Darmstadt“ ist ein einzigartiges und außergewöhnliches Ensemble von architektonischen Elementen in einer gestalteten Landschaft. Ein Ensemble, das einen Prototyp der Moderne darstellt und die Schritte auf dem Weg zum Internationalen Stil der Architektur der Moderne und städtischer Landschaftsgestaltung dokumentiert. Es handelt sich um ein Gesamtkunstwerk mit bedeutendem Einfluss auf die Geschichte der Architektur. Errichtet worden ist es zwischen 1899 und 1914. Deren Einfluss auf das Design des 20. Jahrhunderts wird meist mit Architektur und Kunst in Verbindung gebracht. Die radikale Synthese von Architektur, Gestaltung und Kunst hat das experimentelle Ausstellungsgebäude mit seiner progressiven Architektur, ehrgeizig gestaltete städtische Freiräume, zeitgenössische Raumkunst sowie innovative Künstlerhäuser und Ateliers hervorgebracht. Der als Ikone wirkende Hochzeitsturm in Form einer offenen Hand mit den beiden über Eckgeführten Bändern kleiner Fenster krönt den Hügel der Mathildenhöhe gleichsam als Mittelpunkt des Ensembles. Gemeinsam mit dem massiven Ausstellungsgebäude sahen Zeitgenossen diese beiden Bauwerke als eine „Akropolis“ und „Stadtkrone“. Vor dieser einzigartigen Silhouette von Hochzeitsturm und Ausstellungsgebäude erstreckt sich der Platanenhain. Parallel zum Platanenhain erstreckt sich das Lilienbecken mit der Russischen Kapelle. Ergänzt wird das zentrale Ensemble im Süden, Osten und Westen durch Ateliergebäude und eine Reihe von experimentellen Häusern in unterschiedlichen Architekturformen, eingebettet in großzügig gestalteten städtischen Freiräumen mit Parks, Pavillons, Straßen und Wegen.

Gesamtansicht Weit small
Institut Mathildenhöhe, Foto: Gregor Schuster

Unversehrtheit

Die „Mathildenhöhe Darmstadt“ hat ihre Bedeutung über die Zeit hinweg bewahrt: Die Stätte, die alle Merkmale und Elemente beinhaltet, hat eine angemessene Größe und Vollständigkeit, um den vorgeschlagenen außergewöhnlichen universellen Wert zu belegen. Die Grenze umfasst den zentralen Bereich des Wohn- und Ausstellungsgeländes der Künstlerkolonie mit seinen wichtigsten Gebäuden und Räumen, die eindeutig die funktionale Unversehrtheit sowie das Konzept der räumlichen Gestaltung belegen. Die „Mathildenhöhe Darmstadt“ weist eine außerordentliche strukturelle, funktionale und visuelle Unversehrtheit auf, obwohl einige Elemente der Stätte nach Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg behutsam restauriert wurden. Sie ist in einem guten Erhaltungszustand und zeigt keine schädigenden Einflüsse durch die Stadtentwicklung oder Vernachlässigung. Mögliche Gefährdungen für die Unversehrtheit des Ensembles werden streng überwacht.

 

Echtheit

Die „Mathildenhöhe Darmstadt“ kann ihre Bedeutung durch den höchst authentischen Ort mit seinen echten, glaubwürdigen und wahrhaftigen Merkmalen und Elementen uneingeschränkt vermitteln. Das Ensemble aus architektonischen Elementen und gestalteten Freiräumen zeigt mit Blick auf Form und Gestaltung, Material und Substanz einen hohen authentischen Standard. Außerdem dokumentiert die „Mathildenhöhe Darmstadt“ ihre Echtheit als ganzheitliches Ensemble. Dies ist in den Gebäuden und Räumen zu erkennen, deren ursprüngliche Bestimmung gewissenhaft bewahrt und die Kontinuität der traditionellen Funktion und Nutzung dauerhaft berücksichtigt wurde. Verschiedene Elemente der Mathildenhöhe, die im Krieg beschädigt waren, sind wenig später wieder behutsam restauriert worden, alle Erhaltungsmaßnahmen wurden in Abstimmung mit den Denkmalschutzbehörden ausgeführt. Die „Mathildenhöhe Darmstadt“ ist in der Lage, ihre Bedeutung im Hinblick auf die Herausbildung der Moderne und als erste internationale dauerhafte Bauausstellung sehr eindeutig zu belegen.

Hochzeitsturm
Bildarchiv Foto Marburg, Foto: Ingo E. Fischer
Joseph Maria Olbrich, Hochzeitsturm, 1908, Luftaufnahme, Ansicht von Nordosten

Auf einem östlich der Stadt gelegenen Hügel begann Prinz Christian, ein Bruder des regierenden Groß­h­erzogs Ludwigs I., um 1800 anstelle eines Weinbergs eine Parkanlage zu planen. Die damals erbaute Einfriedung ist als Bruchstein­mauer an der Erbacher Straße in großen Teilen noch erhalten. Sein Nachfolger, Groß­­herzog Ludwig III. führte diese Planungen fort. Nach seiner Gattin Mathilde erhielt die nun als Landschafts­park gestaltete Grünanlage ihren Namen. Der um 1830 angelegte Platanen­hain zeugt aus dieser Zeit und ist heute ein wichtiger Bereich der 1899 gegründeten Künstler­­kolonie auf der Mathildenhöhe. Ein Sommerhäuschen an prominenter Stelle, nach Plänen des klassizist­ischen Hofbaumeisters Georg Moller erbaut, musste der im selben Jahr geweihten Russische Kapelle weichen.

 

Bebauungsplan des Architekten Karl Hofmann

Inzwischen begann die sich ausdehnende Bebauung der Stadt auch Bereiche der Mathildenhöhe einzunehmen. Um eine architekt­­onisch anspruchs­volle Weiter­entwicklung dieses Geländes in die Wege zu leiten, beauftragte Groß­­herzog Ernst Ludwig 1897 den Arch­itekten Karl Hofmann mit dem Entwurf einer städtebau­lichen Konzeption für den südlichen und westlichen Teil der Parkanlage. Nach seinen Plänen wurden entlang der Straßen Victoria-Melitta-Weg (heute Prinz-Christians-Weg), Alexandraw­eg und Nikolaiweg eine Reihe von Villen nach den Entwürfen namhafter Arch­itekten wie Paul Wallot, Alfred Messel, Heinrich Metzendorf und Friedrich Pützer erbaut. Das Zentrum der Mathildenhöhe aber sollte für die 1899 gegründete Künstler­­kolonie mit ihren Bauwerken, Gartenanlagen und Skulpturen zur Verfügung stehen.

 BebauungsplanPlan 1897 Hofmann
Institut Mathildenhöhe
Bebauungsplan Mathildenhöhe 1897, Hofmann

Bereits 1898 fand auf Initiative des Verlegers Alexander Koch in Zusammen­arbeit mit dem Kunstverein und der „Freien Vereinigung Darm­städter Künstler“ eine „Erste Darm­städter Kunst- und Kunst­gewerbe­ausstellung“ in der Kunsthalle statt. Sowohl hier als auch im Gewerbemuseum konnten bereits einige der späteren Mitglieder der Künstler­­kolonie ihre Werke ausstellen. Der Groß­­herzog Ernst Ludwig nahm die Strömungen der Zeit war und gründete unter Mitwirkung Kochs 1899 die Künstler­­kolonie auf der Mathildenhöhe.

 

Die Ausstellung 1901 „Ein Dokument deutscher Kunst“

Entsprechend der Arts and Crafts Bewegung in England, die sich die Erneuerung der Kunst und des Handwerks, verbunden mit Entwürfen einer im Sinne des modernen Menschen geplanten Architektur zum Ziel gesetzt hatte, wurden auf den Mathildenhöhe Wohn- und Künstlerhäuser geschaffen, die alle Bereiche des Lebens gestalten sollten und als Teil der Aus­stellung 1901 „Ein Dokument deutscher Kunst“ für den Besucher zur Besichtigung offen standen.

Ziele der Künstlerkolonie Darmstadt

Das von Olbrich entworfene Atelier­gebäude, das Ernst-Ludwig-Haus, diente als Arbeits­platz. Dessen Inschrift „Seine Welt zeige der Künstler, die niemals war noch jemals sein wird“ über dem ornamental betonten Portal verweist auf den visionären Anspruch, umfassend eine Lebenswelt zu entwerfen, die sowohl eine ästhetische als auch eine im Sinne der Lebens­reform geschaffene Erneuerung des Alltags des modernen Menschen anstrebte. Der Grundstein wurde gelegt mit den Worten des Groß­h­erzogs „Mein Hessenland blühe und in ihm die Kunst“, die das Ideal einer Verbindung von künstler­ischen Entwürfen und handwerk­licher Ausführung deutlich machen. In dieser Verknüpfung war zugleich auch eine wirtschaft­liche Belebung der heimatlichen Produktion anvisiert worden. Diese erste Aus­stellung der Künstler­­kolonie auf der Mathildenhöhe wurde gut besucht und international diskutiert, finanziell allerdings eine große Belastung für die Staatskasse.

Die „ersten Sieben“ Mitglieder der Künstlerkolonie Darmstadt

Für die Berufung des ersten Mitglieds, dem Maler und Grafiker Hans Christiansen, musste der Groß­­herzog bis nach Paris reisen, um den international bekannten Künstler für seine Pläne in Darmstadt zu gewinnen. Im weiteren Verlauf wurden Peter Behrens aus München, Joseph Maria Olbrich aus Wien, Rudolf Bosselt aus Paris, die beiden jungen Münchner Künstler Paul Bürck und Patriz Huber und als einzig in Darmstadt ansässiger der Bildhauer Ludwig Habich berufen. Ein auf drei Jahre befristetes Gehalt und die Aussicht auf eine wachsende Auftragslage sollte die Zukunft dieser Künstler absichern. Vier dieser „ersten Sieben“ konnten sich einen zu günstigen Konditionen erworbenen Bauplatz auf der Mathildenhöhe leisten, um hier ihr Haus errichten zu lassen. Die beiden jüngsten Mitglieder Hubert und Bürck erhielten eine Wohnung im Atelierhaus.

 Ausstellung 1901 Olbrich, Das Buch zum Museum Institut Mathh 1999 20 1c095b05c0

Aufgrund der Erfahrungen der ersten Aus­stellung der Künstler­­kolonie plante man 1904 in wesentlich kleinerem Umfang. Viele der daran beteiligten Künstler hatten inzwischen Darmstadt verlassen, einzig Joseph Maria Olbrich und Ludwig Habich blieben auf der Mathildenhöhe. Neu Berufene waren der Bildhauer Daniel Greiner, der Designer Paul Haustein und der Maler und Grafiker Johann Vincenz Cissarz.

Plakat 1904

Als einzige Wohnhäuser wurde an der südwestlichen Ecke der Mathildenhöhe die sogenannte Dreihäusergruppe errichtet. Olbrich plante ein Ensemble von drei Gebäuden, das als Baukomplex eine Einheit bildet.

Ziel der 1908 eröffneten „Hessischen Landes­ausstellung für freie und angewandte Kunst“ war es, einen Überblick über „die hessischen Kunst­leistungen der Gegenwart“ zu präsentieren. Diesmal stellten nicht alleine die Mitglieder der Künstler­­kolonie Darmstadt Joseph Maria Olbrich, Albin Müller, Heinrich Jobst, die Brüder Friedrich Wilhelm und Christian Heinrich Kleukens, Josef Emil Schnecken­dorf, Jacob Julius Scharvogel, Daniel Greiner und Ernst Riegel ihre Werke aus, die Schau sollte über die Darm­städter Arbeiten hinaus kunst­handwerk­liche Produkte des ganzen Landes einer breiten Öffentlichkeit bekannt machen.

Plakat Hessische Landenausstellung 1908

Als wichtigstes Bauensemble der Künstlerkolonie 1908 wurde der von Joseph Maria Olbrich geplante Hochzeitsturm mit dem angrenzenden Ausstellungsgebäude fertiggestellt.

Hochzeitsturm
Bildarchiv Foto Marburg, Foto: Ingo E. Fischer

Schon 1913 sollte eine weitere Aus­stellung der Künstler­­kolonie auf der Mathildenhöhe stattfinden, die dann ein Jahr später unter der Leitung Albin Müllers realisiert werde konnte. Weitere Mitglieder waren wieder die Brüder Kleukens und Heinrich Jobst, auch Ernst Riegel konnte als Auswärtiger teilnehmen. Neu berufen wurden die Arch­itekten Emanuel Joseph Margold und Edmund Körner, der Bildhauer Bernhard Hoetger, die Maler Hans Pellar und Fritz Osswald sowie der Gold­schmied Theodor Wende.

 1914 Bernhard Hoetger Quelle, Das Buch zum Museum Institut Mathh 1999 8 0be0860d0d

Albin Müller entwarf auch das große Wasserbecken vor der Russischen Kapelle, mit der Farbigkeit seiner Bodenfliesen, den gedrungenen Säulen am östlichen Abschluss und den sakralen Figuren Maria und Joseph.

Lilienbecken
Welterbebüro Mathildenhöhe Darmstadt, Foto: Katharina Bach

Die baulichen Aktivitäten der Künstler­gemeinschaft auf der Mathildenhöhe fanden mit Beginn des Krieges im August 1914 ein jähes Ende. Selbst nach 1918 blieb es, womöglich bestärkt durch die harsche Kritik einiger Kollegen aus Arch­itekten­kreisen an den undogmatisch ent­worfenen Künstler­häusern, still auf dem Musenhügel. Das einst viel diskutierte Ensemble geriet weitgehend in Vergessenheit. Erst mit der „Wieder­entdeckung“ des Jugendstils in den 1950er Jahren wurden die Werke der Künstler­­kolonie bewusster wahr­genommen, jedoch noch immer nicht wertgeschätzt. Erst die große Retrospektive zu den Werken der Künstler­­kolonie „Ein Dokument Deutscher Kunst 1901 ∙ 1976“ unter der Leitung des Instituts­direktors Bernd Krimmel leitete eine Wende im Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit ein.

 

Neue Künstlerkolonie

Die 1953 von Prinz Ludwig von Hessen initiierte und von namhaften Darm­städter Bürgern gegründete Neue Künstler­­kolonie auf der nahe gelegenen Rosenhöhe sollte einen „Beitrag zur Überwindung der Nöte der geistig und künstler­isch Schaffenden“ leisten und wollte damit direkt an die Tradition der Künstler­­kolonie anknüpfen. Bereits 1955 wurden die ersten beiden Häuser Kasimir Edschmid und Rudof Sellner im Edschmidweg gebaut. 1965-67 entstanden weitere sieben Bungalows mit Ateliers im Ludwig-Engel-Weg. Hier konnten ebenfalls Schrift­steller, Musiker, Bildhauer und andere Kultur­schaffende zu vergünstigter Miete wohnen und arbeiten. Zu ihnen gehörten u.a. Karl Krolow, Gabriele Wohmann und Wilhelm Loth. Diese Tradition wird bis heute gepflegt. Hier wohnen heute u.a. die Schrift­stellerin Katja Behrens, der Bildhauer Thomas Duttenhoefer, der Filmemacher Christian Gropper, der Fotograf Lukas Einsele und weitere Kultur­schaffende dieser Stadt.