Platanenhain
Architekt: Bernhard Hoetger
Bauphase: 1904 - 1914
Der um 1830 angelegte Platanenhain ist als Teil der zu Beginn des 19. Jahrhunderts von Prinz Christian angelegten Parkanlage Mathildenhöhe mit seinen regelmäßig gepflanzten und geschnittenen Bäumen bis heute erhalten. Der Hain wird nach Osten und Süden zum Teil von einer Stützmauer begrenzt und im Norden und Westen von einer efeuumrankten Spalierwand umgeben. Er ist ein frei zugänglicher, in sich geschlossener Ort.
Bernhard Hoetger wurde 1911 von Großherzog Ernst Ludwig an die Künstlerkolonie in Darmstadt berufen um diesen Hain für die vierte Ausstellung auf der Mathildenhöhe 1914 künstlerisch zu gestalten. Hoetger nutze diesen Auftrag, um ein Gesamtkunstwerk mit Skulpturen, Reliefwänden und Inschriften zu entwickeln, in dem das Thema Werden und Vergehen – der Kreislauf allen Lebens – mit dem Symbol des Wassers seinen künstlerischen Ausdruck findet.
Ein Gesamtkunstwerk im Platanenhain
Dieses Skulpturenensemble ist als Einheit in seiner außerordentlich originellen Umsetzung mit allen künstlerischen Elementen erhalten. Trotz witterungsbedingter Verluste der Farbigkeit lässt sich auch heute noch ein vom Künstler entworfenes mythologisches Weltbild erkennen, das ein wichtiges Zeugnis der kulturellen Strömungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts darstellt.
Der Besucher wird eingeladen, sich auf eine kontemplative Reise durch das Skulpturenensemble zu begeben. Dann erschließt sich ihm eine universelle Welt, die Immanenz und Transzendenz, die archaische Formen, altägyptische Überlieferungen und fernöstliche Religionsphilosophie mit den Grundlagen christlich-abendländischer Kultur zu vereinen vermag.
Das Portal
Auf den Pfeilern zu beiden Seiten des südlichen Eingangs kauern sprungbereite bronzene Raubkatzen, die auf ihren Rücken kleine Kinder tragen.
Rechter Pfeiler: Silberlöwe/Puma
Der Puma wird wegen seines hellgrauen Fells auch Silberlöwe genannt. In der chinesischen Mythologie wird er in eine Verbindung mit der Sonne gesetzt und steht damit auch für den Tag. Der beginnende Tag erscheint hier in Gestalt eines Kindes, dessen junger Körper sich nach Osten der aufgehenden Sonne entgegenstreckt.
Linker Pfeiler: Panther/Leopard
Der Panther schlafe, so die Überlieferung, nach jeder Mahlzeit drei Tage lang und wird damit auch als ein Symbol für Tod und Auferstehung gedeutet. Das Kind auf dem Rücken des Panthers scheint ebenfalls zu schlafen, sein Körper ist der untergehenden Sonne zugewandt. Dem Kreislauf der Sonne entspricht auch der Kreislauf allen Lebens.
Die Inschriften auf den Pfeilern
Die Bronzeskulpturen des Portals wurden durch künstlerisch gestaltete Inschriften auf den Pfeilerwänden ergänzt, die in ihrem Inhalt auf das Gesamtkunstwerk Platanenhain Bezug nehmen. Dem rechten Pfeiler ist ein Zitat aus dem Großen Sonnenhymnus des Pharaos Echnaton eingeschrieben und nimmt damit das Thema des erwachenden Tages auf.
Die Inschriften auf dem linken Pfeiler, einer altägyptischen Handschrift entnommen, zitieren das „Brunnengebet“ aus dem Papyrus Sallier I. Sowohl der Kreislauf der Sonne mit dem Tag und der Nacht als auch das Element Wasser werden mit den Skulpturen und den Inschriften als zentrale Themen des Ensembles angesprochen.
Brunnengruppe
Der südliche Eingang lenkt den Blick geradeaus hin zu einer architektonisch gestalteten Brunnengruppe mit drei Wasserträgerinnen, einer kunstvoll gearbeiteten Brunnenwand mit wasserspeienden Engelsköpfchen und sechs zu beiden Seiten in Reihe sitzenden Wächterlöwen. Ein von Efeu umranktes Gitterwerk bildet eine schützende Nische und weist dem Kunstwerk einen ihm eigenen Ort zu.
Brunnengruppe: Inschrift
In die bildlich und ornamental gestaltete Brunnenwand ist die erste Strophe des Gedichts „Gesang der Geister über dem Wasser“ von Johann Wolfgang von Goethe eingemeißelt. Es erzählt vom Kreislauf des Wassers, vom Himmel zur Erde und wieder hinauf und ist Teil des großen Themas: Werden und Vergehen, als Kreislauf in der Natur.
Krugträgerinnen
Sieben zu beiden Seiten des Brunnens aufgestellte Wasserträgerinnen in Nischen gerückt, tragen symbolisch das lebensspendende Wasser in die Welt. Diese Figuren ergänzen thematisch die zentrale Brunnengruppe der Nordseite des Hains. Wie auch bei den anderen Skulpturen ist die ursprüngliche farbige Fassung nicht erhalten geblieben.
Reliefwände: Frühling, Sommer, Schlaf, Auferstehung
Im Westen und im Osten stehen sich zwischen den äußeren Baumreihen je zwei allegorische Reliefwände einander gegenüber. Sie thematisieren „Frühling“, „Sommer“, „Schlaf“ und „Auferstehung“ und sind zentrale Darstellungen des Skulpturenprogramms im Platanenhain: dem Zyklus von Werden und Vergehen allen Lebens.
Die vier Reliefwände haben kompositorisch den gleichen Aufbau: Sechs stehende Figuren sind im Wechsel mit fünf hockenden oder knienden Figuren aufgereiht. Die Figuren stehen durch Haltung und Gestik in Kommunikation zueinander, manche scheinen in sich gekehrt zu ruhen. Die ehemals stark betonten Augen- und Lippenkonturen verliehen dem kontemplativen Ensemble ausdrucksstarke Akzente.
Den Typus der polynesischen Menschen in der Malerei Paul Gauguins, dessen Werk Hoetger schon aus seinem Pariser Leben bekannt war, findet in den Relieffiguren einen Widerhall. Im Platanenhain setzt der Bildhauer aktuelle Impulse seiner Zeit auf eine ebenso eigenwillige wie auch überzeugende Weise in seinen Werken um.
Mit den Figuren der Reliefwände findet Hoetger zu einer archaischen Ausdruckskraft, die den Impressionismus des 19. Jahrhunderts gänzlich überwunden hat. Aristide Maillols reine Linie des Körpers aufnehmend und darüber hinaus zur vereinfachten Form geführt, verschmelzen diese Werke fernöstliche Physiognomien mit der kontemplativ anmutenden Körpersprache außereuropäischer Kulturen. Die stehenden und hockenden Figuren strahlen eine heitere Gelassenheit aus, die träumerisch und nicht mehr an Zeit gebunden scheint.
Skulptur: „Sterbende Mutter mit Kind"
Die liegende Figur der sterbenden Mutter ist zum Hain hin ausgerichtet. Auf ihren linken Arm gestützt, scheint sie den Oberkörper noch ein wenig aufrecht halten zu können. Ihr Kopf aber ist nach hinten geneigt, was der Sterbenden einen schon der Welt entrückten Ausdruck verleiht. Auf dem Schoß der Mutter sitzt vom dramatischen Geschehen scheinbar unberührt, gedankenverloren das kleine Kind, eine Frucht in seinen Händchen haltend.
Der in Fischerhude 1913 entstandene Entwurf für ein Grabmal der früh verstorbenen Malerin Paula Modersohn-Becker wurde von Hoetger ein Jahr später in das Ensemble auf der Mathildenhöhe integriert. Das individuelle Schicksal der Künstlerin wird hier als Teil des Werdens und Vergehens allen Lebens in der Natur dargestellt.
Hoetger achtete darauf, dass der Stein auch an den farbig gefassten Partien in seiner Struktur sichtbar blieb. Während die Bemalung der Figuren in gedämpften Tönen vorgenommen wurde, wählte Hoetger für die Betonung der Lippen ein reines Rot, ein Schwarzgrau für die Haare und Augenbrauen sowie zur Betonung der Pupillen. Die Skulpturen wurden in manchen Teilen steinsichtig belassen. Die Farbe ist schon früh verloren gegangen, das Spiel von Material und Form ist aber trotz der verwitterten Oberfläche bis heute wahrnehmbar.
Sockel der Skulptur mit Löwen
Die Architektur des Denkmals „Sterbende Mutter mit Kind“ entspricht der Tradition römisch-antiker Sarkophage. Die Deckplatte ist mit stilisierten Wolken geschmückt, die Ecken mit Akroterien, die als Greifvögel ausgebildet sind. Die Platte, auf der die Skulptur ruht, wird von fünf steinernen Löwen getragen. Auch die Reihung der Tiere entspricht dem Schema altertümlicher Grabmale.
Sockel der Skulptur: Inschrift
Im Hintergrund zwischen den Löwen sind Zitate aus den frühen hinduistischen Texten der Bhagavadgita als Inschrift zu lesen.
Hoetger entwirft für den Platanenhain einen eigenen Schrifttypus, die Inschriften sind damit erläuternd und zugleich ornamental gestaltend. Dieses Kunstmittel wurde mit dem ursprünglich blaufarbigen Hintergrund verstärkt und bringt Schrift und Kunstwerk als Einheit zur Geltung. Die schwer lesbare Schrift fordert eine besondere Aufmerksamkeit ein und verstärkt damit die Wahrnehmung des Ensembles mit seinen vielgestaltigen Objekten.
Schakalvasen
Zu beiden Seiten der Mutter-Kind-Skulptur sind je zwei steinerne Gefäße aufgestellt, an denen sich paarweise in Gussstein gestaltete Schakale zum Rand hin emporziehen. Mit ihren schlanken Körpern, vorgestreckten Schnauzen und spitz aufgestellten Ohren können sie als Wüstenfüchse oder Schakale bezeichnet werden. Setzt man diese Tierfiguren in Verbindung zum ägyptischen Totengott Anubis, lässt sich eine Beziehung zum Denkmal der sterbenden Mutter herstellen.
Schakalvasen: bärtige Maske
Die bärtigen Masken am Fuße der Vasen sind mit ihrer archaischen Physiognomie und einer blockhaften Grundform der romanischen Formensprache entlehnt. Auch sie stehen für einen Unheil abwehrenden Charakter und können damit in eine Reihe mit den Wächterlöwen der Brunnengruppe gestellt werden.
Löwenvasen
Im Süden sind zehn von Löwen getragene Steinvasen als Pflanzgefäße für Agaven aufgestellt. Die unter den Vasen Rücken an Rücken sitzenden Tiere sind nach Osten und Westen gerichtet. Im Vergleich mit altägyptischen Vorbildern würden sie den östlichen und den westlichen Horizont symbolisieren und damit den Auf- und Untergang der Sonne benennen. Dies entspricht den Bronzeskulpturen Tag und Nacht der Pfeiler des südlichen Portals.
Ursprünglich standen die fünf westlichen Pflanzgefäße erhöht, auf einer den Platanenhain nach Süden abschließenden Mauer. Ihre ursprüngliche Farbfassung ist fast vollständig verloren gegangen. Die ockergelben Mähnen der Löwen hoben sich vor einem in dunklen Blautönen gehaltenen Hintergrund ab. Die Vasen selbst waren mit einem blau-weiß-orangenem Zackenornamentband geschmückt. Heute zeigt sich die ursprüngliche Bemalung nur noch an wenigen geschützten Partien.
Ende Sommer 2021 bis Sommer 2023 fanden umfassende Sanierungsarbeiten am Platanenhain auf der Mathildenhöhe in Darmstadt statt.